Klavier Festival Ruhr
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Strawinsky und die russische Volksmusik

Zu den faszinierendsten Aspekten von Strawinskys schöpferischer Auseinandersetzung mit Volksmusik in der Petruschka-Partitur gehört ihre Doppelgesichtigkeit. Während der russische Komponist mit der Verwendung von Volksmelodien an eine lange Tradition anknüpfte, unterscheidet sich sein Umgang mit dem entlehnten Material zum Teil radikal von den Volksliedbearbeitungen seiner Vorgänger.

Vorgeschichte: Folklorismus und Nationalstil in der russischen Musik des 19. Jahrhunderts

In der russischen Musikkultur des 19. Jahrhunderts spielte die Beschäftigung mit Volksmusik eine wichtige Rolle. Schon Michail Glinka (1803–1857), der als Begründer eines russischen Nationalstils gilt, griff in seinen Opern und Instrumentalwerken auf Volksmelodien zurück. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der von Glinka eingeschlagene Weg insbesondere von den Komponisten des so genannten „Mächtigen Häufleins“ (Balakirev, Borodin, Kjui, Mussorgski und Rimsky-Korsakov) fortgeführt. Sie verwendeten nicht nur in vielen ihrer Werke Volksweisen, sondern gaben wie Milij Aleksejewitsch Balakirev (1837–1910) oder Nikolai Rimsky-Korsakov (1844–1908) auch Volksliedsammlungen heraus.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienen die kreativen Energien der neuen russischen Schule und ihrer Erben allerdings weitgehend erschöpft zu sein. So antwortete Nikolai Rimsky-Korsakov im Jahr 1900 auf die Frage, ob sich die russische Musik auch weiterhin „vom Saft der Volkskunst“ nähren werde: „Es wird immer schwieriger, wirklich originelle Ideen in einem Volks-Stil zu entwickeln.“ 1  Dass es seinem Schüler Igor Strawinsky wenige Jahre später gelingen sollte, gerade durch den Bruch mit dem traditionellen Stil der Volksliedbearbeitung einen Weg aus der vermeintlichen Sackgasse zu finden, konnte Rimsky-Korsakov, der im Juni 1908 starb, nicht mehr miterleben.

Nikolai Rimsky-KorsakovNikolai Rimsky-Korsakov
Strawinsky und Bartók – Ein vergleichender Blick

Was Strawinsky dazu veranlasste, mit der traditionellen Form der Volksliedbearbeitung zu brechen und welche Impulse und Anregungen ihn bei seinen neuartigen Experimenten leiteten, sind zwei Fragen, die sich nur schwer beantworten lassen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit Béla Bartók. Der 1881 geborene ungarische Komponist entwickelte ungefähr zeitgleich mit Strawinsky eine moderne Tonsprache, die in der Volksmusik wurzelt. Seine Beweggründe und seine Vorgehensweise hat Bartók dabei immer wieder in Texten und Vorträgen thematisiert. Strawinsky hingegen hielt sich zu diesem Thema weitgehend bedeckt. Er äußerte sich kaum zu seiner schöpferischen Auseinandersetzung mit Volksmusik und versuchte später sogar, die russischen Wurzeln seiner musikalischen Sprache zu verschleiern.

Béla Bartók (4. von links) beim Sammeln von Volksliedern

Ein zweiter gewichtiger Unterschied zwischen beiden Komponisten betrifft die Zugangsweise zur Volksmusik. Im Gegensatz zu Strawinsky beschäftigte sich Bartók nicht nur als Komponist mit Volksmusik, sondern war zugleich auch Volksliedforscher. Zwischen 1906 und 1936 unternahm er fast 40 Forschungsreisen, um die Musik unterschiedlicher ethnischer Gruppierungen in ihrer originalen Gestalt kennen zu lernen und mit dem Bleistift oder dem Phonographen vor Ort aufzuzeichnen. Welche enorme Bedeutung Bartók dieser direkten Begegnung mit ‚authentischen‘ Volksweisen und ihrem kulturellen Umfeld für sein eigenes Schaffen beimaß, erläutert er in einem Vortrag aus dem Jahr 1931:

„Im Übrigen bin ich der Meinung, daß die Bauernmusik nur dann eine tiefe und anhaltende Wirkung ausübt, wenn sie auf dem Lande, unter den Bauern selbst gesammelt wird. Mit anderen Worten: ich bin überzeugt, daß es nicht genügt, sich lediglich mit der in den Museen aufbewahrten Bauernmusik zu befassen. [… ] Es ist gut möglich, daß der Russe Strawinsky und der Spanier de Falla nicht selbst systematisch sammelten, sondern ihr Material zum Großteil fremden Sammlungen entnahmen. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach lernten sie die Bauernmusik ihres Landes nicht nur aus Büchern und Museen kennen, sondern studierten auch die lebendige Musik.“ 2

Strawinsky und die zeitgenössische russische Volksliedforschung

Mit seinem Plädoyer für ein Studium der Volksmusik „an Ort und Stelle“ stand Béla Bartók nicht alleine. Auch in Russland begaben sich Musikethnologen ab dem späten 19. Jahrhundert vermehrt auf ausgedehnte Forschungsreisen, um Volkslieder direkt von der ländlichen Bevölkerung zu sammeln und ihre Aufführungsweise minutiös zu studieren. Der amerikanische Musikwissenschaftler Richard Taruskin hat in seinem faszinierenden Buch Stravinsky and the Russian Traditions die These aufgestellt, dass diese neue Schule der russischen Volksmusikforschung den Boden für Strawinskys innovativen Umgang mit Volksmusik bereitet habe.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen hatten sich die Autoren älterer Volksliedsammlungen wie Nikolai Rimsky-Korsakov bei der Aufzeichnung auf einzelne Sänger gestützt, die ihnen die Melodien vorsangen. In einem zweiten Schritt versahen sie die notierten Weisen dann mit eigenen Begleitungen in einem ‚Volksliedstil‘. Die neuen Volksliedforscher hingegen waren erpicht darauf, die Lieder in möglichst unverstellter Gestalt kennenzulernen und sie genau so aufzuzeichnen, wie sie an ihren Herkunftsorten, die oft fernab der urbanen Zivilisation lagen, gesungen wurden. Auf ihren Reisen entdeckten die Forscher dabei eine faszinierende Praxis des mehrstimmigen Singens, die bis dahin nahezu unbekannt geblieben war. So berichtet der Hobby-Ethnologe Nikolai Yevgrafovich Palchikov über seine Erfahrungen in einem kleinen Dorf im Ural in den 1880er Jahren:

„Aus meinen Gesprächen während der Aufzeichnungssitzungen wurde mir klar, dass die Sänger in Nikolayevka keinen Unterschied zwischen einstimmigen Gesang (einem Lied, das von einem Sänger gesungen wird) und chorischem Singen machen. […] Die vollständige Aufführung eines Lieds kann in Nikolayevka nur durch einen Chor erfolgen, und einzelne Sänger können nur einzelne Elemente oder Teile des Lieds singen – die Stimmen, aus denen das gesamte Lied im Chor zusammengefügt wird. Im Zuge meiner weiteren Arbeit wurde mir bewusst, dass der Chorgesang der Bauern von Nikolayevka seine Eigenheiten hat, insbesondere, dass keine der Stimmen ein gegebenes Motiv lediglich begleitet. Jede Stimme singt die Melodie (das Lied) auf ihre eigene Art und Weise und es ist die Summe dieser Melodien, die das Lied ergibt.“ 3

Wesentlich erleichtert wurde das Studium dieser heterophonen  Gesangspraktiken durch die Einführung des Phonographs um die Jahrhundertwende. Während Volksliedforscher zuvor ganz auf ihr Ohr und ihr musikalisches Gedächtnis vertrauen mussten, war es nun möglich, ein genaues akustisches Abbild komplexer mehrstimmiger Gesänge auf einer Wachswalze aufzuzeichnen. So erklärt Evgeniia Lineva (1853 – 1919), die als eine der ersten systematisch mit dem neuen Aufnahmegerät arbeitete:

„Ich bewundere den Phonograph als ein erstaunlich nützliches Notizbuch, das natürlich von demjenigen am besten verwendet werden kann, der die Notizen aufgezeichnet hat. Ich selbst war nie in der Lage, während einer Aufführung alle Stimmen gleichzeitig zu notieren: ich schreibe einfach zu langsam. Ein Lied, das erfolgreich von einem Phonographen aufgenommen wurde, behält alle Aspekte seines rhythmischen und harmonischen Charakters.“ 4

Auf der Basis ihrer phonographischen Aufzeichnungen publizierte Lineva ab 1905 mehrere einflussreiche Volksliedsammlungen. Ähnlich wie Béla Bartók war sie dabei der Überzeugung, dass die Entdeckungen der neuen Volksliedforschung auch der Kunstmusik neue Wege weisen könnten:

„Trotz vieler ungünstiger Bedingungen ist es wahrscheinlich, dass das Volkslied, das auf dem Land zu verschwinden droht, in den Werken unserer Komponisten transformiert und wiedergeboren wird. Diese Wiedergeburt ereignet sich nicht nur in Form von Entlehnungen von Volksmelodien – das ist die einfachste und am wenigsten befriedigende Weise, dieses Material zu benutzen; nein, diese Wiedergeburt ereignet sich vielmehr im Bereich des Stils: frei, weit und lyrisch; als mutige und komplexe Form der Stimmführung, bei der die Stimmen sich überschneiden und auseinander streben, sich manchmal mit der Hauptmelodie vereinigen und sich dann wieder radikal von ihr entfernen. Eine solche Wiedergeburt erwarten wir in mutigen und interessanten Kompositionen von musikalischen Neuerern, sowohl bei uns als auch im Ausland.“ 5

In der Petruschka-Partitur ließ Strawinsky Linevas Vision bereits wenige Jahre später Wirklichkeit werden. Viele Indizien sprechen dabei dafür, dass er sich bei seinem originellen Umgang mit dem Volksliedmaterial und seinen rhythmischen und metrischen Experimenten von der neuen russischen Volksliedforschung anregen ließ.

Weiterführende Lektüre

Richard Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1996 (insbesondere S. 718–735).

Anmerkungen

1 Zit. nach Richard Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1996, S. 718.

2 Béla Bartók, „Vom Einfluß der Bauernmusik auf die Musik unserer Zeit“, in: Béla Bartók, Weg und Werk. Schriften und Briefe, hrgs. Von Bence Szabolcsi, Budapest: Corvina, 1972, S. 168.

3 Zit. nach Taruskin 1996, S. 742.

4 Zit. nach ebd., S. 727f.

5 Zit. nach ebd., S. 730.