Klavier Festival Ruhr
deutschsprachige Version ausgewählt Click to change to English language Petruschka
Handlung und Dramaturgie

Das Ballett-Szenario zu Petruschka ist ein Gemeinschaftswerk von Igor Strawinsky und Alexandre Benois. Das Handlungsgeschehen der „Burleske in vier Szenen“ – so nennt Strawinsky sein Werk in der Partitur – setzt sich aus zwei verschiedenen Ereignisschichten zusammen. Diese greifen auf komplexe Weise ineinander und werden in der Schlussszene des Werkes zusammengeführt.

Zum Schauplatz

Schauplatz von Petruschka ist der alte Sankt Petersburger Fastnachtsjahrmarkt. Während der 1882 geborene Strawinsky das wilde Jahrmarktstreiben vor dem Zarenpalast lediglich aus Erzählungen kannte, hatte es der zwölf Jahre ältere Alexandre Benois in seiner Kindheit noch selbst miterlebt. In seinen Erinnerungen berichtet er über das vor Beginn der Fastenzeit in der sogenannten „Butterwoche“ stattfindende alljährliche Großereignis:

„Natürlich bestehen zwischen den Elementen des russischen Karnevals und jenen, die man im restlichen Europa findet, viele Gemeinsamkeiten. Dennoch sah der russische Karnevalsjahrmarkt anders aus als die Märkte in Paris, Wien oder Rom. Wie anderswo gab es Schaubuden, in denen allerlei Spiele gezeigt wurden, riesige Schaukeln und Karusselle, und unzählige Essstände. Doch selbst diese ‚europäischen Elemente’ verwandelten sich bei uns zu etwas ganz und gar Eigenem. Die gesamte Atmosphäre war anders; die Fröhlichkeit intensiver, die Festlichkeiten spontaner und herzlicher.“ 1

Im ersten und vierten Bild des Balletts haben Strawinsky und Benois ein eindrucksvolles Porträt dieser Sinne betäubenden Jahrmarktswelt geschaffen.

Konstantin Makovsky (1839–1915): Maslenitsa-Fest auf dem Admiralitätsplatz in Sankt Petersburg, 1869
Auf dem Petersburger Fastnachtsjahrmarkt (I. Bild)

„Platz der Admiralität 1830. Ein sonniger Wintermorgen.“

Im ersten Bild wird die Bühne von Marktschreiern, Händlern, Straßenmusikanten, Tänzern, Zigeunern und zahlreichen ausgelassenen Jahrmarktsbesuchern bevölkert. Die Musik beginnt – noch bei geschlossenem Vorhang – mit den Rufen der Marktschreier und dem Gesang einer Horde Betrunkener. 

Das bunte Jahrmarktsgeschehen bildet den Rahmen für die Petruschka-Geschichte. Diese basiert auf Elementen des russischen Volkstheaters und der italienischen Commedia dell’arte, die Benois und Strawinsky auf originelle Weise ineinander geblendet haben. Der Auftritt eines kauzigen Scharlatans markiert im ersten Bild den Übergang zwischen beiden Handlungsschichten. 

Auf dem Höhepunkt der Festlichkeiten zieht der alte Gaukler den Vorhang eines kleinen Theaters empor. Auf der Bühne sieht die gespannte Jahrmarktsmenge drei Puppen, die dort reglos zu verharren scheinen. Doch mit seinem beschwörenden Flötenspiel haucht der Scharlatan den drei Puppen Leben ein.  Petruschka, die Ballerina und der Mohr strecken ihre Glieder und beginnen mit mechanischen Bewegungen einen wilden russischen Tanz. 

Bühnenbildentwurf zum ersten Bild von Petruschka, Alexandre Benois, 1911 (akg-images/Erich Lessing, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020)
Zur dramaturgischen Gestaltung der beiden Handlungsschichten

Im Handlungsgeschehen von Petruschka spiegelt sich ein Grundmotiv der russischen Ballett- und Operndramaturgie. So entführen uns das zweite und dritte Bild aus der menschlichen Jahrmarktswelt in das geheime Reich der Puppen. Diese Gegenüberstellung einer realistischen und einer phantastischen Welt wird in Petruschka allerdings auf ironische Weise gebrochen.

Die Menschen, die den Jahrmarkt bevölkern, werden vom Corps de ballet dargestellt. Sie treten fast immer in Gruppen in Erscheinung und entwickeln keinerlei persönliche Züge. Die zum Leben erweckten Puppen hingegen verhalten sich – trotz ihrer mechanischen Natur – wie fühlende Individuen. Sie werden von Solo-Tänzern verkörpert und nehmen im Lauf des Petruschka-Dramas menschliche Züge an.

Die geheime Welt der Puppen (II. und III. Bild)

Petruschka, der Protagonist des Balletts, ist die beseelteste Puppe. Mit einem unsanften Tritt befördert ihn der Scharlatan zu Beginn des zweiten Bildes auf die Bühne. 

Bei Strawinsky und Benois wird der russische Jahrmarktsheld Petruschka zu einer Figur mit Pierrot-ähnlichen Zügen. Er ist nicht nur über die Abhängigkeit von seinem Herrn erbost, sondern leidet auch an seiner Hässlichkeit und sozialen Isolation. 

Im weiteren Handlungsverlauf entwickelt sich eine tragische Liebesgeschichte. Sie basiert auf dem alten Liebesdreieck der italienischen Stegreifkomödie: Pierrot, Harlekin und Colombine. Im Ballett wird die Figur der Colombine durch die schöne Ballerina verkörpert. An ihrem einfältigen Charakter lässt Strawinskys Musik dabei keinen Zweifel. 

Petruschka liebt die schöne Ballerina. Doch diese ist von seinem Äußeren abgestoßen und ergreift die Flucht. Im dritten Bild wendet sie sich stattdessen Petruschkas diabolischem Gegenspieler zu. In der Balletthandlung ist diese männliche Gegenfigur nicht – wie in der Commedia dell‘arte – der quirlige Harlekin, sondern ein Mohr: stattlich, viril und exotisch. 

Nach ersten Annäherungen tanzen die beiden in der Zelle des Mohren einen bizarren Walzer.  Wutentbrannt erscheint plötzlich der eifersüchtige Petruschka und attackiert seinen Nebenbuhler. Doch der gewaltbereite Mohr ist stärker und wirft Petruschka am Ende des dritten Bildes unsanft zur Tür hinaus.

Programmheftillustration zu Petruschka, Paris 1911
Petruschkas Tod und seine Wiederauferstehung (IV. Bild)

Mit Beginn des vierten Bildes kehren wir aus der geheimnisvollen Puppenwelt im Inneren des Theaters ins laute Jahrmarktstreiben zurück. In einer Folge von Tänzen werden unterschiedliche Jahrmarktsbesucher und Attraktionen porträtiert: die Ammen (Ziffer 170ff.), ein Bauer mit einem Bär (Ziffer 188ff.), ein weltgewandter Kaufmann mit zwei Zigeunerinnen (Ziffer 196ff.) sowie die Kutscher und Stallknechte (Ziffer 213ff.). Nachdem letztere gemeinsam mit den Ammen getanzt haben (Ziffer 223ff.), erscheint eine Gruppe von gespenstischen Maskenträgern (Ziffer 234ff.). Mit ihren wilden Gebärden bringen sie die versammelte Menschenmenge zum Tanzen.

Auf dem Höhepunkt des wilden Treibens erklingt plötzlich ein gellender Schrei (Ziffer 251).  Verfolgt von dem säbelrasselnden Mohren flüchtet Petruschka angsterfüllt aus dem kleinen Theater des Scharlatans. Doch er kann der rasenden Wut seines Kontrahenten nicht entkommen. Nach einem verzweifelten Kampf fällt er einem mächtigen Säbelhieb des Mohren zum Opfer und stirbt unter den erschrockenen Blicken der Jahrmarktsbesucher im Schnee (Ziffer 258ff.).

Dem Scharlatan gelingt es, die aufgebrachte Menge und den herbeigeeilten Polizisten davon zu überzeugen, dass es sich bei dem Getöteten lediglich um eine unbeseelte Puppe handelt. Die Jahrmarktsbesucher zerstreuen sich und der alte Mann bleibt allein in der Dunkelheit zurück. Plötzlich erscheint auf dem Dach des Theaters Petruschkas Geist. Er droht dem entsetzten Scharlatan, der angsterfüllt die Flucht ergreift. 

Alexandre Benois, Figurine des Scharlatans, vermutlich 1911 (Sotheby’s/akg-images © VG Bild-Kunst, Bonn 2020)
Anmerkungen

1 Alexandre Benois, Memoirs, Bd. 1, London: Chatto and Windus, 1960. S. 26. (dt. TB)